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HISTORIE/329: 1962 ging von Okinawa fast der Atomkrieg aus (SB)


1962 ging von Okinawa fast der Atomkrieg aus

Neuer haarsträubender Vorfall während der Kuba-Krise enthüllt


Während der Kubakrise im Oktober 1962 ist die Menschheit an der nuklearen Ausrottung gerade noch vorbeigeschrammt. Einzig und allein die Entscheidung des sowjetischen Marineoffiziers Wassili Archipow, nicht mit dem Abschuß eines nuklearbewaffneten Torpedos auf Wasserbomben zu reagieren, mit denen US-Kriegsschiffe in internationalen Gewässern der Karibik sein U-Boot angriffen, hat den Ausbruch des Dritten Weltkriegs verhindert. Darum gilt Archipow in Militärhistorikerkreisen als "der Mann, der die Welt rettete". Doch möglicherweise gebührt Flottenkommandeur Archipow nicht allein diese Ehre. Wie die renommierte Fachzeitschrift Bulletin of Atomic Scientists am 25. Oktober unter der Überschrift "The Okinawa missiles of October" berichtete, [1] ist es während der Kubakrise von seiten der US-Streitkräfte im Pazifik fast zu einem Nuklearangriff der USA auf die Sowjetunion und die Volksrepublik China gekommen. Nur das beherzte Einschreiten von William Bassett, damals Hauptmann bei der US-Luftwaffe, hat quasi in letzter Sekunde die in Gang gesetzte Vernichtungsmaschinerie gestoppt.

Quelle dieser schockierenden Enthüllung ist John Bordne, der damals wie Bassett bei der 498th Tactical Missile Group der US-Luftwaffe auf Okinawa diente. Der 74jährige Bordne, der heute als Rentner in Pennsylvania lebt, hat nach mehr als einem halben Jahrhundert das Schweigen gebrochen und Aaron Tovish vom Bulletin of Atomic Scientists seine Erinnerungen an den schockierenden Vorfall mitgeteilt. Am 28. Oktober nahm Bordne per Skype an einer Präsentation bei den Vereinten Nationen in New York teil. Es wurde ein Film über die Episode gezeigt. Anschließend antwortete Bordne auf Fragen der anwesenden Journalisten, Diplomaten und Abrüstungsexperten.

Damals standen die Verantwortlichen für die auf Okinawa stationierten US-Atomraketen unter dem Eindruck der Kuba-Krise. Wie ihre Landsleute daheim hatten sie am 22. Oktober die Fernsehrede von Präsident John F. Kennedy über die Präsenz ballistischer Mittelstreckenraketen der Sowjetunion auf Kuba mit Sorge verfolgt und wußten, daß sich die ungeheuren Spannungen zwischen Washington und Moskau jeden Moment in einem noch niemals dagewesenen Kriegsinferno entladen könnten. Auf Okinawa befanden sich 32 nuklearbewaffnete Marschflugkörper vom Typ TM-76 Mace in der Obhut der US-Luftwaffe. Jede dieser 13 Meter langen Mace-Raketen konnte einen 1,1-Megatonnen Nuklearsprengkopf mit einem Gewicht von acht Tonnen rund 2.000 Kilometer weit tragen und verfügte über die 75fache Sprengleistung jener Bombe, die 1945 über Hiroshima explodierte. Die 32 Mace-Raketen auf Okinawa waren auf acht Staffeln verteilt.

Normalerweise erhielt jede Staffel zu Schichtbeginn eine Mitteilung vom nahegelegenen Operationszentrum mit dem Datum, der Wettervorhersage und einer kodierten Ziffernfolge. Unterschied sich der erste Teil der Ziffernfolge des Operationszentrums von dem der jeweilige Staffel an diesem Tag, ging der reguläre Stationsbetrieb einfach weiter. Glichen sich jedoch beide Codes, dann bedeutete das, daß die restliche Ziffernfolge weitere Sonderanweisungen enthielt und geöffnet werden mußte. Am 28. Oktober 1962 trat dieser Fall ein. Waren auch noch die zweiten Teile der Codes identisch - was an diesem Tag auch zutraf - war der Kommandeur der jeweiligen Staffel angehalten, die dritten und letzten Teile des Codes zu vergleichen. Stimmten auch diese überein, war das der Befehl, die Raketen abzufeuern. Ausgerechnet auf dem Höhepunkt der Kubakrise geschah dies.

Als Hauptmann Bassett daraufhin die Zielkoordinaten für die Raketen seiner Staffel las, stellte er mit Verwunderung fest, daß sich drei der anzugreifenden Positionen nicht auf dem Territorium der Sowjetunion befanden. Kurz darauf meldete ihm der Leiter einer anderen Staffel, daß auch beim ihm zwei von vier angegebenen Zielen nicht in der Sowjetunion lagen. Um einen Fehler auszuschließen übermittelte das Operationszentrum auf Bitten Bassetts, der das Oberkommando für alle acht Staffeln innehatte, die Codes noch einmal. Es waren jedoch dieselben Codes; nichts hatte sich verändert. Währenddessen bestand der Leiter einer weiteren Staffel, ein Leutnant, dessen vier Ziele sich auf sowjetischem Territorium befanden, darauf, seine Mace-Raketen abzufeuern. Schließlich bestand die Möglichkeit, daß der Dritte Weltkrieg inzwischen ausgebrochen war und sich sowjetische Raketen bereits auf dem Weg nach Okinawa befanden. Trotz der Ungewißheit entsandte Bassett mehrere seiner Männer zur fraglichen Staffel mit dem Befehl, den Abschuß der Raketen zu verhindern und im Extremfall den befehlshabenden Leutnant dort zu erschießen.

In der Zwischenzeit wandte er sich an das Operationszentrum, um dem Problem auf den Grund zu gehen. Was Bassett, der zum Glück einen kühlen Kopf behielt, während des ganzen Durcheinanders stutzig machte, war die Tatsache, daß sich die Streitkräfte der USA zum fraglichen Zeitpunkt weltweit nur im zweithöchsten Alarmzustand - DEFCON 2 - befanden. Formell war vorgeschrieben, daß die US-Atomstreitkräfte erst bei DEFCON 1 ihre Bomben und Raketen auf gegnerische Ziele abfeuern bzw. abwerfen sollten. Unter Hinweis auf diesen Widerspruch konnte Bassett die Leitung im Operationszentrum auf Okinawa zur Rücknahme des Feuerbefehls bewegen. Zur Erleichterung aller wurde Entwarnung gegeben.

Später stellte sich heraus, daß ein Offizier im Operationszentrum den Angriffsbefehl fälschlicherweise erteilt hatte. Was ihn dazu verleitet hat, ist bis heute nicht bekannt. Der Mann kam vor ein Militärgericht und da er ohnehin vor der Pensionierung stand, wurde er still und leise aus dem Dienst entlassen. Alle Beteiligten an dem Vorfall wurden zum Stillschweigen verpflichtet. Bassett starb 2011, ohne daß die Welt von seiner Heldentat erfuhr. Aufgrund der jüngsten Enthüllung hat das National Security Archive an der George Washington University beim Pentagon unter Berufung auf das Informationsfreiheitsgesetzes die Herausgabe der Akte über das damalige Verfahren vor dem Kriegsgericht beantragt, um mehr Licht in die Angelegenheit zu bringen.


Fußnote:

1. Aaron Tovish, The Okinawa missiles of October, Bulletin of Atomic Scientists, October 25, 2015 - 22:34

http://thebulletin.org/okinawa-missiles-october8826

2. November 2015


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